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Yuliia (39), Bankkauffrau, Kamanskje

Es war absolut überraschend, dass überhaupt jemand angegriffen wird. Wir leben in einem Zeitalter, wo wir auf andere Planeten fliegen können. Warum muss dann überhaupt geschossen werden? Menschen können doch einfach viel mehr. In diesem Zeitalter ist es einfach unverständlich, dass es überhaupt zu einem Krieg kommen kann. Keiner hat daran geglaubt, dass das passiert.

  • Deutsch
    Entfernung: Witten – Kamanskje: 2.264,0 km

    Kamjanske ist eine Stadt in der Oblast Dnipropetrowsk im Zentrum der Ukraine und hat etwa 230.000 Einwohnende (Stand 2019). Sie ist ein wichtiges Industriezentrum und eine Universitätsstadt. Von 1936 bis 2016 trug der Ort den Namen Dniprodserschynsk, beziehungsweise russisch Dneprodserschinsk. Die Stadt liegt am Ufer des Kamjansker Stausees am Mittellauf des Dnepr, 35 km westlich von Dnipro.

    Leaflet | © Map Services | Kartendaten © OpenStreetMap Mitwirkende (Lizenz: ODbL)

    Zur persönlichen Situation

    „Kamanskje ist eine sehr kleine Stadt, umgeben von künstlich angelegten Wasserspeichern, die von der örtlichen Metallindustrie genutzt worden sind. Die Stadt liegt an dem großen Fluss Dnepr. Der Ort ist wirklich wunderschön. Wir hatten dort eine Wohnung und waren im Besitz von einem Haus, das in der Vorstadt lag. Wir hatten sehr schöne Parks, sogar schöne Strandabschnitte, umgeben von einer wundervollen Natur, sodass wir nie das Bedürfnis hatten, in den Urlaub zu fahren. Wir hatten alles vor der Haustür. In den letzten zwei Jahren hat sich die Stadt wirklich unglaublich entwickelt. Wir hatten einen sehr guten Bürgermeister, der sich wirklich sehr engagierte. Die Stadt ist modern geworden und hat sich insgesamt sehr gut entwickelt. Ich hatte wirklich alles. Ich hatte ein gutes Zuhause, einen guten Ehemann, eine gute Arbeit - wir hatten ein wirklich gutes Leben. Ich hatte nie vor, umzuziehen oder gar das Land zu verlassen. Wenn ich beispielsweise die Kinderspielplätze hier sehe, muss ich wirklich sagen, dass die armselig sind. Es war für unsere Kinder so schön in der Ukraine und hier ist im Vergleich kein einziger Spielplatz schön. Den Kindern wurde eine andere Infrastruktur geboten, denn überall gab es Spielplätze beziehungsweise Spielmöglichkeiten. Es ist mit dem Zustand hier nicht zu vergleichen.“

    Zur Kriegssituation

    „Am 24. Februar 2022 rief mich um 7 Uhr morgens meine Schwester an und sagte mir, dass wir beschossen werden.
    Meine erste Handlung, um kurz nach 7 Uhr war, alles Geld und somit alles, was ich besitze, vom Konto abzuheben, bevor die Bankkonten gesperrt werden. Wir haben ja bereits Erfahrung seit 2014 und ich wollte vorbereitet sein. Es hat sich aber herausgestellt, dass unsere Stadt für einen solchen Angriff unvorbereitet war. Wir hatten keine Bunker oder Sirenen und waren überhaupt nicht gewappnet für eine solche Situation. Der nächste Bunker lag 10 km entfernt. Der war aber selbstverständlich geschlossen. Es war absolut überraschend, dass überhaupt jemand angegriffen wird. Wir leben in einem Zeitalter, wo wir auf andere Planeten fliegen können. Warum muss dann überhaupt geschossen werden? Menschen können doch einfach viel mehr. In diesem Zeitalter ist es einfach unverständlich, dass es überhaupt zu einem Krieg kommen kann. Keiner hat daran geglaubt, dass das passiert.“

    Zu ihrer Beziehung zu Russland und zum Thema Sprache(n)

    „Meine Cousine lebt mit ihren Kindern in Russland, ganz in der Nähe von Moskau. Meine Mutter steht noch mit ihr und der Familie in Kontakt, ich selbst hatte nie so viel Kontakt zu ihr. Damit wir aber den Kontakt zu unseren Familienangehörigen nicht verlieren, haben wir die Regel aufgestellt, dass wir nicht über Politik reden, grundsätzlich.
    Stellen Sie sich vor: Die Computertechnologie in der Ukraine ist zum Beispiel viel besser entwickelt als in Deutschland. Vieles bekommt man über digitale Medien mit. Hin und wieder schaue ich mir auch russische Nachrichten oder russische Blogger an, die über die politischen Themen in Russland berichten, und ich glaube auch nicht, dass Putin das alleinige Übel darstellt. Er hat ein großes Team und wahrscheinlich wurde das Ganze auch im Kollektiv geplant. Gleichzeitig glaube ich auch, dass der ganze Krieg schon monatelang vorher geplant wurde.
    Es gab tatsächlich auch eine stark „ukrainisierende Bewegung“, das heißt, es wurde stark darauf geachtet, dass die ukrainische Sprache gefördert wird, dass ukrainische Musik gehört wird oder dass in Schulen mit ukrainischen Büchern gearbeitet wird. Und ich finde das auch richtig. In meinem Beruf als Bankkauffrau habe ich auch weiterhin russisch gesprochen. Es wurde mir nicht verboten oder so etwas in der Art. Wir hatten ja auch russischsprachige Schulen in der Stadt. Ich verstehe das alles nicht. Mein Kind geht zum Beispiel in die Schule, spricht dort russisch und wird von keinem anderen gemobbt oder so etwas in der Art. Der fingierte Begriff einer „Entnazifizierung“ macht also keinerlei Sinn. Und wir russischsprechenden Ukrainer wurden nicht verfolgt oder bestraft, weil wir russisch gesprochen haben. Kurzum: Dafür, dass ich russisch gesprochen habe, wurde ich niemals unter Druck gesetzt. Und es ist auch richtig, dass die ukrainische Sprache gefördert wurde. Wir lebten in Einklang.“

    Wünsche

    „Ich wünsche mir, dass mein Mann und ich wieder zusammenkommen, auch hier in Deutschland, denn es kann sein, dass wir in unserer Heimat nicht mehr leben können. Mir geht es wirklich schlecht, alleine mit meinem Kind, ohne meinen Mann, ohne Wohnung. Ich wünsche mir, dass mein Kind irgendwo eine Bleibe hat und wir nicht ständig umziehen müssen. Ich wünsche mir, dass es ruhiger ist. Ich will, dass sich unsere Familie wieder zusammenfindet. Ich will meine Mutter bei mir haben. Sie ist noch in der Ukraine und ich habe Angst, dass sie dort stirbt. Wir haben sie nach genesener Krebserkrankung zwei Jahre lang gepflegt und dass sie jetzt in Lebensgefahr schwebt, ist unerträglich.“

    Das Interview wurde am 25. April 2022 von Sebastian Schopp geführt.

  • English

    Yuliia (39), bank clerk, Kamanskje

    Distance: Witten – Kamanskje: 2.264,0 km

    Kamjanske is a city in Dnipropetrovsk oblast in central Ukraine and has about 230,000 inhabitants (as of 2019).  It is an important industrial center and a university town. From 1936 to 2016, the town bore the name Dniprodserschynsk, or Dneprodserschinsk in Russian. The city is located on the shore of the Kemyansk Reservoir on the middle reaches of the Dnieper River, 35 km west of Dnipro.

    Leaflet | © Map Services | Kartendaten © OpenStreetMap Mitwirkende (Lizenz: ODbL)

    Personal situation

    "Kamanskye is a very small town surrounded by man-made water reservoirs that have been used by the local metal industry. The city is located on the big river Dnepr. The place is really beautiful. We had an apartment there and owned a house that was in the suburbs. We had very nice parks, even nice beach areas, surrounded by wonderful nature, so we never felt the need to go on vacation. We had everything at our doorstep. In the last two years, the city has really developed incredibly. We had a very good mayor who was really involved. The city has become modern and has developed very well overall. I really had everything. I had a good home, a good husband, a good job - we had a really good life. I never planned to move or even leave the country. For example, when I see the children's playgrounds here, I really have to say they are pathetic. It was so nice for our children in Ukraine and here not a single playground is nice in comparison. The children were offered a different infrastructure, because everywhere there were playgrounds or play facilities. It can't be compared with the condition here."

    On the war situation

    "On February 24, 2022, at 7 in the morning, my sister called me and told me that we were being shelled.
    My first action, at just after 7 a.m., was to withdraw all the money, and therefore everything I own, from the account before the bank accounts were frozen. After all, we already have experience since 2014 and I wanted to be prepared. But it turned out that our city was unprepared for such an attack. We had no bunkers or sirens and were not at all prepared for such a situation. The nearest bunker was 10 km away. But of course it was closed. It was absolutely surprising that anyone would be attacked at all. We live in an age where we can fly to other planets. Why is it necessary to shoot at all? Humans can do much more. In this age, it is simply incomprehensible that a war can happen at all. No one believed it would happen."

    On her relationship with Russia and the topic of language(s)

    "My cousin lives with her children in Russia, very close to Moscow. My mother is still in contact with her and the family, I myself never had that much contact with her. But so that we don't lose contact with our family members, we made a rule that we don't talk about politics, basically.
    Imagine: Computer technology in Ukraine, for example, is much better developed than in Germany. You can find out a lot through digital media. Every now and then I watch Russian news or Russian bloggers reporting on the political issues in Russia, and I also don't think Putin is the sole evil. He has a big team and probably the whole thing was planned collectively. At the same time, I also believe that the whole war was planned months in advance.
    There was actually also a strong "Ukrainizing movement," that is, there was a strong emphasis on promoting the Ukrainian language, listening to Ukrainian music, or using Ukrainian books in schools. And I think that's right, too. In my job as a bank clerk, I continued to speak Russian. I was not forbidden or anything like that. We also had Russian-speaking schools in the city. I don't understand all this. For example, my child goes to school, speaks Russian there, and is not bullied by anyone else or anything like that. So the fabricated notion of "denazification" makes no sense at all. And we Russian-speaking Ukrainians were not persecuted or punished for speaking Russian. In short, I was never pressured for speaking Russian. And it is also true that the Ukrainian language was encouraged. We lived in harmony."

    Wishes

    "I wish that my husband and I would get together again, even here in Germany, because it may be that we can no longer live in our homeland. I am really miserable, alone with my child, without my husband, without a place to live. I wish that my child has a place to stay somewhere and that we don't have to move all the time. I wish that it would be calmer. I want our family to be together again. I want to have my mother with me. She is still in Ukraine and I am afraid that she will die there. We took care of her for two years after recovering from cancer, and the fact that she is now in mortal danger is unbearable."

    The interview was conducted by Sebastian Schopp on April 25, 2022.

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