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Sascha (17), angehender Seemann, Mariupol

Der entscheidende Unterschied zwischen westlicher Orientierung und russischer Orientierung liegt im Zwang. Die russische Politik ist eine diktatorisch geführte Politik und wir mussten uns der einzigen Möglichkeit unterordnen, während uns die westliche Orientierung mehrere Möglichkeiten aufzeigt, die wir frei wählen können. Dieser Unterschied ist wichtig.“

  • Deutsch
    Entfernung: Witten – Mariupol: 2.591,4 km

    Mariupol ist eine Stadt in der Oblast Donezk in der Ukraine, die vor Kriegsbeginn rund 440.000 Einwohnende (Stand 2018) hatte.  Die Stadt war historisch eines der wichtigsten Zentren der Griechen in der Ukraine, die bis heute eine der größten Minderheiten in der Stadt sind. Mariupol befindet sich am Ufer des Asowschen Meeres an der Mündung des Kalmius und war bis zur Belagerung ab dem 24. Februar 2022 eine bedeutende Hafen- sowie Universitätsstadt und Wirtschaftszentrum. Seither hat die Stadt massive Zerstörungen erlitten.

    Leaflet | © Map Services | Kartendaten © OpenStreetMap Mitwirkende (Lizenz: ODbL)

    Persönliche Situation

    „Während meines Studiums habe ich drei Mal in der Woche gearbeitet, sodass ich mich selber finanzieren konnte und meinen Eltern nicht auf der Tasche lag. Dementsprechend war ich mit meinem Leben sehr zufrieden. Ich habe meine Schule erfolgreich abgeschlossen, war gut in Mathe und eigentlich lief alles irgendwie nach Plan, also so, wie ich es mir vorgestellt habe. Ich habe viel Sport machen können und alles war eigentlich soweit in Ordnung. Ich war angehender Matrose im zweiten Semester an einem sehr schönen Ort.
    Es ist wichtig anzumerken, dass sich die Region um Mariupol bereits seit fünf Jahren in einer kriegerischen Auseinandersetzung befand, aber dennoch wurden fünf Parkanlagen aufgebaut, die Schulen wurden renoviert und insgesamt lässt sich festhalten, dass sich die Stadt, trotz dieser Umstände, sehr gut entwickelt hat. Mariupol war eine wirklich schöne Stadt.“

    Die Flucht nach Deutschland nach dem Kriegsbeginn

    „Die Reise nach Deutschland dauerte insgesamt einen Monat. In den ersten Tagen nach offiziellem Kriegsbeginn war es sehr schwer, aus der Stadt hinauszukommen. Viele Autos waren bereits zerstört, eine Flut an Leichen lag auf der Straße, wir hatten kein Handynetz, keine Möglichkeit, irgendwo anzurufen, Geschäfte waren geschlossen, es gab kein Wasser, keine Elektrizität. Kurzum: es war eine einzige Katastrophe und es gab einfach nichts. Die Leute haben dann angefangen, draußen im Freien, ein Feuer zu machen, um etwas kochen zu können. Ich möchte die Menschen nicht als wahnwitzig bezeichnen, aber die Menschen hatten Hunger und mussten natürlich Nahrung zu sich nehmen. Dennoch wurden wir die ganze Zeit bombardiert und es war sehr gefährlich, im Freien zu sein. Es wurde täglich schlimmer. Wir konnten immer nur kurz raus, und es fielen die ganze Zeit Bomben auf uns. Wir verbarrikadierten uns schließlich im Keller. Ich zählte die Tage. 46 Tage haben wir so verbringen müssen, ohne Wasser und ohne Strom. Glücklicherweise hatten wir ein eigenes Auto, welches nicht von den Bomben getroffen wurde, sodass wir eine Möglichkeit sahen, Mariupol hinter uns zu lassen. Wir haben die ganze Zeit gebetet, dass das Auto nicht den Bomben zum Opfer gefallen ist. Wir hatten nie vor, das Land zu verlassen, aber wir sahen keine Möglichkeit, weiterhin in Mariupol zu leben, zumal ich nicht möchte, dass wir von Russland annektiert werden.
    Die prorussischen Menschen in der Region übten einen enormen Druck aus, insbesondere die eingesetzten Truppen und Milizen. So kontrollierten sie zum Beispiel Handys und überprüften, was und mit wem geschrieben wurde. Um zum Beispiel von dem einen in den anderen Stadtteil zu kommen, benötigten wir eine schriftliche Legitimation, welche es erlaubte, dass wir in den anderen Stadtteil passieren durften. Alles wurde überprüft, und zu jener Zeit wirkte es fast willkürlich und es war sehr bedrohlich. Wenn wir in den anderen Stadtteil wollten, meine Oma lebte dort, wurden wir auf Messer und andere Waffen kontrolliert. Wir benötigten die Zusagen der prorussischen Seite. Man konnte sich auf keinen Fall frei bewegen. Als wir uns entschieden haben, Mariupol zu verlassen, sind wir über die Krim gefahren, nicht durch die Ukraine gen Westen, denn das war viel zu gefährlich. Als wir schließlich die Krim erreichten, wurden wir erneut inspiziert. Handys, Computer und Personaldaten wurden aufgenommen und einer Überprüfung unterzogen. Das Ganze dauerte zwölf Stunden. Hinzu kommt, dass, wenn man als Mann in der Armee gedient hatte, man eh keine Chance hatte, das Land zu verlassen. Meine Familie, bis auf meinem Vater, haben schließlich eine Erlaubnis bekommen, auf die Krim fliehen zu können. So entschied meine Mutter, dass sie mit meinem Vater im Auto zurückbleibt. Wir mussten uns also trennen und mein Cousin und ich reisten weiter. Auf der Krim hatten mein Cousin und ich schließlich die Möglichkeit, in einer eingerichteten Notunterkunft zu übernachten. Wir haben dann glücklicherweise Bekannte aus Mariupol getroffen und sind dann gemeinsam in die Türkei gefahren. Der Weg führte durch Russland. So haben wir Krasnodar, Sotschi und Georgien hinter uns lassen können. Auf dem Weg in die Türkei wurden wir immer wieder an verschiedenen Standorten, so genannten Checkpoints, kontrolliert. Wir mussten uns unserer Kleidung entledigen und erneut wurden wir auf Waffen kontrolliert. Auch unsere Handys wurden immer wieder überprüft. Währenddessen gab mein Vater an, welcher noch mit meiner Mutter in der Ukraine war, dass er in die Türkei fahren musste. Mit Hilfe eines Transitvisums gelang es schließlich auch meinem Vater, in die Türkei einreisen zu dürfen, ebenfalls durch Russland.  Mein Cousin und ich warteten etwa eine Woche auf meine Eltern an der türkischen Grenze. Als wir dann wieder zusammengefunden haben, sind wir schließlich binnen einer Woche nach Deutschland gekommen. Vom Zeitpunkt des Verlassens meiner Heimat bis nach Deutschland brauchten wir etwa einen Monat. Es war eine schwierige Zeit. In den ersten 46 Tagen nach der Invasion haben die Menschen in Mariupol, die ukrainischen Menschen, den russischen Menschen sogar Essen angeboten. Aber die russischen Soldaten nahmen das Essen nicht an, da sie dachten, dass es vergiftet gewesen sei.
    Der entscheidende Unterschied zwischen westlicher Orientierung und russischer Orientierung liegt im Zwang. Die russische Politik ist eine diktatorisch geführte Politik und wir mussten uns der einzigen Möglichkeit unterordnen, während uns die westliche Orientierung mehrere Möglichkeiten aufzeigt, die wir frei wählen können. Dieser Unterschied ist wichtig.“

    Wünsche

    „Ich hoffe, dass ich irgendwann zurückkehren und mein bisheriges Leben fortführen kann, und sich die Ukraine, bei einer westlichen Orientierung, wieder neu entwickeln lassen kann. Wir wissen natürlich nicht, ob unser Haus und unsere Wohnung noch bewohnbar sind, aber ich wünsche mir, hier einen Ort zu finden, an welchem ich mich genauso wohl fühle, wie ich es daheim tat. Es ist derzeit unmöglich zurückzukehren, aber vielleicht kann ich mich auch woanders so wohlfühlen wie in Mariupol. Deswegen liegt meine Aufgabe jetzt erst einmal in der Integration.“

    Das Interview wurde am 27. Juni 2022 von Sebastian Schopp geführt.

  • English

    Sascha (17), prospective sailor, Mariupol

    Distance: Witten – Mariupol: 2.591,4 km

    Mariupol is a city in Donetsk Oblast, Ukraine, with a population of around 440,000 before the war began (as of 2018).  The city was historically one of the most important centers of Greeks in Ukraine, who remain one of the largest minorities in the city today. Mariupol is located on the shore of the Sea of Azov at the mouth of the Kalmius River and was a major port as well as university city and economic center until the siege beginning February 24, 2022. Since then, the city has suffered massive destruction.

    Leaflet | © Map Services | Kartendaten © OpenStreetMap Mitwirkende (Lizenz: ODbL)

    Personal situation

    "During my studies I worked three times a week, so I could finance myself and was not on the pocket of my parents. Accordingly, I was very satisfied with my life. I successfully completed my schooling, was good at math and actually everything kind of went according to plan, i.e. the way I imagined it. I was able to do a lot of sports and everything was actually fine so far. I was a prospective second semester sailor in a very nice place.
    It is important to note that the region around Mariupol had already been in a state of war for five years, but nevertheless five parks were built, the schools were renovated and overall it can be said that the city, despite these circumstances, developed very well. Mariupol was a really beautiful city."

    The escape to Germany after the beginning of the war

    "The journey to Germany took a month in total. In the first days after the war officially began, it was very difficult to get out of the city. Many cars were already destroyed, a flood of corpses lay in the street, we had no cell phone network, no way to call anywhere, stores were closed, there was no water, no electricity. In short, it was one disaster and there was simply nothing. People then started to build a fire outside in the open to be able to cook something. I don't want to call people insane, but people were hungry and of course they had to eat food. Still, we were bombarded all the time and it was very dangerous to be outside. It was getting worse every day. We could only go out for a short time at a time, and bombs were falling on us all the time. We finally barricaded ourselves in the basement. I counted the days. We had to spend 46 days like that, without water and without electricity. Fortunately, we had our own car, which was not hit by the bombs, so we saw a way to leave Mariupol behind. We prayed all the time that the car did not fall victim to the bombs. We never intended to leave the country, but we saw no possibility to continue living in Mariupol, especially since I don't want us to be annexed by Russia. The pro-Russian people in the region exerted enormous pressure, especially the deployed troops and militias. For example, they controlled cell phones and checked what was written and with whom. For example, in order to pass from one part of the city to the other, we needed a written legitimation, which allowed us to pass to the other part of the city. Everything was checked, and at that time it seemed almost arbitrary and it was very threatening. If we wanted to go to the other part of town, my grandma lived there, we were checked for knives and other weapons. We needed the assurances of the pro-Russian side. There was no way to move freely. When we decided to leave Mariupol, we went through Crimea, not through Ukraine to the west, because that was much too dangerous. When we finally reached Crimea, we were inspected again. Cell phones, computers and personal data were taken and subjected to a check. The whole thing took twelve hours. In addition, if you had served in the army as a man, you had no chance to leave the country anyway. My family, except for my father, eventually got permission to flee to Crimea. So my mother decided that she would stay behind in the car with my father. So we had to separate and my cousin and I traveled on. In Crimea, my cousin and I finally had the opportunity to spend the night in an arranged emergency shelter. We then fortunately met acquaintances from Mariupol and then drove to Turkey together. The way led through Russia. So we were able to leave Krasnodar, Sochi and Georgia behind us. On the way to Turkey, we were repeatedly checked at various locations, so-called checkpoints. We had to take off our clothes and again we were checked for weapons. Our cell phones were also checked again and again. Meanwhile, my father, who was still in Ukraine with my mother, stated that he had to go to Turkey. With the help of a transit visa, my father finally managed to enter Turkey, also through Russia.  My cousin and I waited for my parents at the Turkish border for about a week. When we were reunited, we finally made it to Germany within a week. It took us about a month from the time we left my home country until we got to Germany. It was a difficult time. In the first 46 days after the invasion, the people in Mariupol, the Ukrainian people, even offered food to the Russian people. But the Russian soldiers did not accept the food, thinking that it had been poisoned.
    The crucial difference between Western orientation and Russian orientation is coercion. The Russian policy is a dictator-led policy and we had to submit to the only option, while the Western orientation shows us several options that we can freely choose. This difference is important."

    Wishes

    "I hope that someday I will be able to return and continue my previous life, and let Ukraine, with a Western orientation, develop anew. Of course, we don't know if our house and apartment are still habitable, but I wish to find a place here where I feel as comfortable as I did at home. It is impossible to return at the moment, but maybe I can feel as comfortable somewhere else as I did in Mariupol. That's why my task for now is integration."

    The interview was conducted by Sebastian Schopp on June 27, 2022.

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