„Die Reise nach Deutschland dauerte insgesamt einen Monat. In den ersten Tagen nach offiziellem Kriegsbeginn war es sehr schwer, aus der Stadt hinauszukommen. Viele Autos waren bereits zerstört, eine Flut an Leichen lag auf der Straße, wir hatten kein Handynetz, keine Möglichkeit, irgendwo anzurufen, Geschäfte waren geschlossen, es gab kein Wasser, keine Elektrizität. Kurzum: es war eine einzige Katastrophe und es gab einfach nichts. Die Leute haben dann angefangen, draußen im Freien, ein Feuer zu machen, um etwas kochen zu können. Ich möchte die Menschen nicht als wahnwitzig bezeichnen, aber die Menschen hatten Hunger und mussten natürlich Nahrung zu sich nehmen. Dennoch wurden wir die ganze Zeit bombardiert und es war sehr gefährlich, im Freien zu sein. Es wurde täglich schlimmer. Wir konnten immer nur kurz raus, und es fielen die ganze Zeit Bomben auf uns. Wir verbarrikadierten uns schließlich im Keller. Ich zählte die Tage. 46 Tage haben wir so verbringen müssen, ohne Wasser und ohne Strom. Glücklicherweise hatten wir ein eigenes Auto, welches nicht von den Bomben getroffen wurde, sodass wir eine Möglichkeit sahen, Mariupol hinter uns zu lassen. Wir haben die ganze Zeit gebetet, dass das Auto nicht den Bomben zum Opfer gefallen ist. Wir hatten nie vor, das Land zu verlassen, aber wir sahen keine Möglichkeit, weiterhin in Mariupol zu leben, zumal ich nicht möchte, dass wir von Russland annektiert werden.
Die prorussischen Menschen in der Region übten einen enormen Druck aus, insbesondere die eingesetzten Truppen und Milizen. So kontrollierten sie zum Beispiel Handys und überprüften, was und mit wem geschrieben wurde. Um zum Beispiel von dem einen in den anderen Stadtteil zu kommen, benötigten wir eine schriftliche Legitimation, welche es erlaubte, dass wir in den anderen Stadtteil passieren durften. Alles wurde überprüft, und zu jener Zeit wirkte es fast willkürlich und es war sehr bedrohlich. Wenn wir in den anderen Stadtteil wollten, meine Oma lebte dort, wurden wir auf Messer und andere Waffen kontrolliert. Wir benötigten die Zusagen der prorussischen Seite. Man konnte sich auf keinen Fall frei bewegen. Als wir uns entschieden haben, Mariupol zu verlassen, sind wir über die Krim gefahren, nicht durch die Ukraine gen Westen, denn das war viel zu gefährlich. Als wir schließlich die Krim erreichten, wurden wir erneut inspiziert. Handys, Computer und Personaldaten wurden aufgenommen und einer Überprüfung unterzogen. Das Ganze dauerte zwölf Stunden. Hinzu kommt, dass, wenn man als Mann in der Armee gedient hatte, man eh keine Chance hatte, das Land zu verlassen. Meine Familie, bis auf meinem Vater, haben schließlich eine Erlaubnis bekommen, auf die Krim fliehen zu können. So entschied meine Mutter, dass sie mit meinem Vater im Auto zurückbleibt. Wir mussten uns also trennen und mein Cousin und ich reisten weiter. Auf der Krim hatten mein Cousin und ich schließlich die Möglichkeit, in einer eingerichteten Notunterkunft zu übernachten. Wir haben dann glücklicherweise Bekannte aus Mariupol getroffen und sind dann gemeinsam in die Türkei gefahren. Der Weg führte durch Russland. So haben wir Krasnodar, Sotschi und Georgien hinter uns lassen können. Auf dem Weg in die Türkei wurden wir immer wieder an verschiedenen Standorten, so genannten Checkpoints, kontrolliert. Wir mussten uns unserer Kleidung entledigen und erneut wurden wir auf Waffen kontrolliert. Auch unsere Handys wurden immer wieder überprüft. Währenddessen gab mein Vater an, welcher noch mit meiner Mutter in der Ukraine war, dass er in die Türkei fahren musste. Mit Hilfe eines Transitvisums gelang es schließlich auch meinem Vater, in die Türkei einreisen zu dürfen, ebenfalls durch Russland. Mein Cousin und ich warteten etwa eine Woche auf meine Eltern an der türkischen Grenze. Als wir dann wieder zusammengefunden haben, sind wir schließlich binnen einer Woche nach Deutschland gekommen. Vom Zeitpunkt des Verlassens meiner Heimat bis nach Deutschland brauchten wir etwa einen Monat. Es war eine schwierige Zeit. In den ersten 46 Tagen nach der Invasion haben die Menschen in Mariupol, die ukrainischen Menschen, den russischen Menschen sogar Essen angeboten. Aber die russischen Soldaten nahmen das Essen nicht an, da sie dachten, dass es vergiftet gewesen sei.
Der entscheidende Unterschied zwischen westlicher Orientierung und russischer Orientierung liegt im Zwang. Die russische Politik ist eine diktatorisch geführte Politik und wir mussten uns der einzigen Möglichkeit unterordnen, während uns die westliche Orientierung mehrere Möglichkeiten aufzeigt, die wir frei wählen können. Dieser Unterschied ist wichtig.“